LINSE - Lichtspielkunst in Segeberg

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Filmkritik

Di 12. November
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Liebesbriefe aus Nizza

Komödie

Regie: Ivan Calbérac

mit: André Dussollier (François Marsault) · Sabine Azéma (Annie Marsault) · Thierry Lhermitte (Boris Pelleray) · Joséphine de Meaux (Capucine Marsault) · Sébastien Chassagne (Adrien Marsault)

Frankreich 2024 | 95 Minuten | ab 6

Als ein pensionierter französischer General alte Liebesbriefe seiner Frau entdeckt, in denen eine Affäre mit einem anderen ruchbar wird, startet er einen privaten Feldzug gegen den früheren Nebenbuhler. Seine Rachepläne weisen aber etliche Fallstricke auf und verwandeln sich zudem in eine Initiationsreise zu einem anderen Selbst. Vor der bezaubernden Kulisse Südfrankreichs entfaltet sich eine beschwingte Sommerkomödie, die mit viel Witz und Charme den drei glänzenden Hauptdarstellern eine Bühne für ihre Kunst bietet. Unter der Genreoberfläche geht es aber auch um versäumte Gelegenheiten, verpasste Chancen und unaufgearbeitete Kindheitstraumata. - Ab 14.

Langkritik:

Eine Familie feiert den Geburtstag der Mutter in kleiner Runde im Garten. Aber statt für Annie (Sabine Azéma) ein Glückwunschlied zu singen, stimmt man die Marseillaise mit verändertem Text an. So wünscht es sich der prinzipientreue Gatte François (André Dussollier), ein ehemaliger Marineoffizier, der sein Traditionsbewusstsein zur Schau stellt, wo er nur kann. Etwa in der Einrichtung ihres Hauses, in dem es von Napoleon-Büsten, Militäruniformen und Handgranaten nur so wimmelt.

Ein Nebenbuhler von früher

Doch als François auf dem Dachboden über alte Liebesbriefe seiner Frau stolpert, aus denen hervorgeht, dass sie ihn vor 40 Jahren mit einem Hippie namens Boris (Thierry Lhermitte) am Strand von Nizza betrogen hat, will er sich scheiden lassen und den einstigen Nebenbuhler verprügeln, um seine Ehre wiederherzustellen. Nach fünf Ehejahrzehnten und im Alter von 73 Jahren erweisen sich seine Rachepläne aber voller Fallstricke und als der Anfang einer Initiationsreise zu einem anderen Selbst.

François nutzt zunächst seine Geheimdienstkontakte, um Boris in Nizza ausfindig zu machen, der in der Gegenwart Kampfsport unterrichtet und keineswegs wie ein klappriger Rentner wirkt. Vorsorglich fängt er selbst an, Sport zu treiben, und steigert sich in einen absurden Feldzug hinein, an dem die erst amüsierte, später entsetzte Annie teilnimmt, um das Schlimmste zu verhindern. Sie ist der Meinung, dass ihr Ehebruch längst verjährt ist, und auch Boris zeigt keinerlei Schuldgefühle. Stattdessen umwirbt er neuerlich die einstige Geliebte, der er als überzeugter Single gesteht, dass er sich ohnehin nie hätte binden können.

Währenddessen wundern sich die erwachsenen Kinder des Paars über das sonderbar eifersüchtige Benehmen ihres Vaters. Sie deuten es als Ehekrise und wittern die Gelegenheit, manch unverarbeiteten Konflikt zur Sprache zu bringen, etwa dass die heimlich lesbische Tochter seit Jahren mit einer Frau zusammenlebt.

Starre Werte relativieren

Statt die Kinder nach den unerwarteten Geständnissen zurechtzuweisen, macht François eine Metamorphose durch, zumal er in der Konfrontation mit dem libertären Ex-Konkurrenten feststellen muss, dass er einige seiner starren Werte relativieren muss, wenn er die Ehe mit Annie fortsetzen möchte.

Vor der Kulisse Südfrankreichs zelebriert Regisseur und Drehbuchschreiber Ivan Calbérac eine beschwingte Screwball-Comedy unter Senioren, die André Dussollier, Sabine Azéma und Thierry Lhermitte die Gelegenheit bietet, ihr komödiantisches Können einmal mehr unter Beweis zu stellen. Die simple Geschichte lebt vom Tempo, idyllischen Landschaften und den gegensätzlichen Charakteren. Die gleichen zwar über weite Strecken Karikaturen aus dem Molière-Baukasten, und die Witze kommen mitunter nicht über das Niveau eines Boulevardstücks hinaus, aber das Schauspieler-Trio kennt sich aus anderen Produktionen so gut, dass man ihm die Spielfreude keinen Moment verübeln möchte. Vor allem Dussollier und Azéma, ein legendäres Paar des französischen Kinos, stehen hier bereits zum zwölften Mal zusammen vor der Kamera.

Nichts für Schwächlinge

Während sich der reaktionär-unzeitgemäße François zum toleranten Vater und mitfühlendem Gatten wandelt, bleibt Annie zur Abwechslung stur im Modus eines weiblichen Don Juans, der auf dem Dachboden noch manch anderes erotische Geheimnis verwahrt. So viel Verkehrung der Geschlechterrollen muss in einer sehr französischen Sommerkomödie schon sein, die unter der Genreoberfläche leise und federleicht auch versäumte Gelegenheiten eines erfüllteren Lebens thematisiert, durch die Heirat vernachlässigte Talente oder kindliche Traumata, die aus einer überstrengen Erziehung resultieren und an die Nachkommen weitergegeben werden.

Älter werden ist nichts für Schwächlinge. Doch Zeit zum Lachen über sich selbst bleibt immer genug. Das ist das Motto dieser entwaffnenden Auseinandersetzung mit der letzten Lebensphase, die heute, zumindest im globalen Norden, so viele Menschen betrifft wie noch nie.

Alexandra Wach, FILMDIENST