Filmkritik

Di 23. August 2022
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Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush

Biopic

Regie: Andreas Dresen

mit: Meltem Kaptan (Rabiye Kurnaz) · Alexander Scheer (Bernhard Docke) · Charly Hübner (Marc Stocker) · Nazmi Kirik (Mehmet Kurnaz) · Abdullah Emre Öztürk (Murat Kurnaz)

Deutschland 2022 | 118 Minuten | ab 6

Fünf Jahre lang dauerte der Kampf der Bremer Hausfrau Rabiye Kurnaz, bis ihr Sohn Murat, der kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 als Terrorist verdächtigt und ohne Anklage im Gefangenenlager Guantanamo interniert wurde, wieder freikam. Das beherzte Drama zeichnet mit viel Esprit und Verve das Ringen der couragierten Frau mit dem lockeren Mundwerk nach, wobei der Film in ihrem trockenen Rechtbeistand einen humorvollen Kontrapunkt findet und überdies das Versagen der deutschen Behörden anprangert. In den Hauptrollen überwältigend gespielt. - Sehenswert

Langkritik:

Es ist Mittagszeit in einem kleinen Reihenhaus in Bremen-Hemelingen. Rabiye Kurnaz (Meltem Kaptan) ruft fröhlich ihre Kinder zu Tisch, doch im Zimmer ihres ältesten Sohnes Murat rührt sich nichts. „Murat, steh auf oder ich schneid’ dir deinen Bart ab!“, ruft sie resolut. Doch das Zimmer ihres 19-jährigen Sohnes ist leer. Wie ein Wirbelwind rauscht die stämmige Mutter durch die Räume und wühlt in seinen Sachen. Als sie entdeckt, dass er sein Handy nicht mitgenommen hat, schwant ihr, dass Murat einen folgenreichen Entschluss gefasst haben muss.

Wenig später schon hat sie herausgefunden, dass Murat sich zusammen mit einem Freund auf dem Weg nach Pakistan befindet. Rabiye schaltet in volle Alarmbereitschaft. Mit einem Küchenmesser in der Handtasche und Murats Schwester im Schlepptau fährt sie schnurstracks in die Moschee, die Murat in den letzten Monaten so oft aufgesucht hat. Der Seidenschal, den sie sich halbherzig als Kopftuch umlegt, ist nur Mittel zum Zweck. Kaum ist Rabiye im Gebetsraum, schrumpft der konservative Imam unter ihrem Redeschwall zu einem kleinen Jungen. Der Zorn einer Mutter entlädt sich so raumgreifend, dass jeder Widerstand zwecklos erscheint.

Zwischen den Fronten eines neuen Krieges

Einen Filmschnitt später rast die resolute Hausfrau mit ihrem Ehemann zur Bremer Polizei. Jemand solle Murat aufhalten und zurückholen. Auf dem Revier wird man hellhörig. Erst vor ein paar Wochen haben die Attentäter des 11. September Passagiermaschinen in das World Trade Center gesteuert. Die USA stehen kurz vor dem Einmarsch in Afghanistan. Und eine temperamentvolle Mutter erzählt freimütig von ihrem Sohn, der sich immer mehr entzieht, ständig die Moschee besucht und sich einen Vollbart wachsen lässt.

Zwei Monate später wird Murat Kurnaz in Pakistan verhaftet und gegen 3000 Dollar Kopfgeld an US-Behörden übergeben, die Terrorverdächtige suchen. Er gibt zu Protokoll, dass er eine Koranschule besuchen wolle, um sich auf das gemeinsame Leben mit seiner Frau vorzubereiten, die aus der Türkei bald nach Deutschland kommen soll.

Ohne Prozess wird Murat Kurnaz im Februar 2002 ins Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba geschafft. Journalisten belagern das Reihenhaus der Familie in Bremen. Sie berichten über Murat als „Bremer Taliban“. Rabiyes weigert sich instinktiv zu glauben, dass ihr Sohn etwas Böses getan habe. Mutterliebe ist unhintergehbar parteiisch. Sie treibt Rabiye aus tiefster Verzweiflung in einen Kampf um das Leben und die Freiheit ihres Sohnes.

Direkt und couragiert

Dabei agiert sie so direkt und couragiert, wie sie es aus ihrem Alltag gewohnt ist. Wenn sie ihren Mann überreden will, in die Türkei zum Botschafter zu fahren, überschüttet sie ihn mit seiner Lieblingsspeise. Oder sie schreibt dem deutschen Außenminister Joschka Fischer einen persönlichen Brief mit der Bitte, sich für Murat einzusetzen. Der lässt als Antwort verlautbaren, dass die Bundesregierung nichts machen könne, weil Murat ja türkischer Staatsangehöriger sei.

Ein halbes Jahr ist Murat spurlos verschwunden, bis Rabiye das erste persönliche Lebenszeichen von ihm erhält. Mit seinem Brief aus „Camp X-Ray“, das in den Medien weltweit für Erschütterung sorgt, wendet sie sich an den Bremer Rechtsanwalt Bernhard Docke (Alexander Scheer). Obwohl längst Fotos von den auf Steinen knienden, in Käfigen gehaltenen Männern in grell-orangen Overalls durch die Presse gehen, realisiert Rabiye noch nicht, was das für ihren Sohn bedeutet. Docke ist als Anwalt für Menschenrechte hingegen durchaus über die Lage der Gefangenen in Guantanamo im Bilde und nimmt sich des Falles mit großer Hingabe an.

Ein ungleiches Paar auf der Suche nach Gerechtigkeit

Das Verhältnis zwischen dem hageren Juristen und der türkischen Hausfrau hätte für den Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ leicht zur Klippe werden können. Doch die feinen Antennen der Drehbuchautorin Laila Stieler ermöglichen es, dass die beiden komplementären Figuren durch ihre Unterschiede eine warmherzige, sich gegenseitig erhellende Kraft entfalten. Der hochgewachsene Jurist fügt sich mit seiner Zurückgenommenheit und Besonnenheit in den Raum, den Rabiye mit dem Charme ihres losen Mundwerks immer wieder neu erobert. Erst nach vielen Monaten bietet er ihr in seiner steifen Unbeholfenheit das „Du“ an: „Ich bin übrigens Bernhard.“ Sie: „Ja, das weiß ich doch.“

Gemeinsam mit Regisseur Andreas Dresen trifft Stieler stets den richtigen Ton. Natürlich hat der Anwalt keine Vorstellung davon, dass im Hause Kurnaz vormittags niemand ans Telefon geht, weil der Vater in der Nachtschicht arbeitet. Aber er interessiert sich für seinen Mandanten und schaut sich bei einem Stück Apfelkuchen mit Rabiye alte Familienvideos an, auf denen sie mit Murat türkische Karaoke-Lieder singt. Sie mag aus einem migrantischen Arbeitermilieu kommen und ist als Frau doch eine Klasse für sich. Mit einem weißen Mercedes Cabrio rast Rabiye einmal voller Stolz durch die Bremer Straßen – und es ist nahezu unmöglich, den Triumph ihres neuen Wagens nicht mit ihr zu feiern.

Das verdankt sich neben dem pointierten Drehbuch vor allem dem umwerfenden Spiel der Kölner Comedienne Meltem Kaptan. Sie verleiht Rabiye eine mütterliche Wärme mit vielen Facetten: beherzt, hartnäckig und familiär tonangebend, aber doch auch ganz weich, verletzlich und hilflos auf ihren Sohn bezogen. Als es Rabiye und ihren Anwalt in Washington nach dem Vorsprechen beim Supreme Court abends in eine Hotel-Lobby verschlägt, offenbart sie ihm ohne großes Bedauern, dass sie nicht aus Liebe geheiratet habe, sondern um Kinder zu bekommen, die ihr Leben füllen sollen. Eine Szene, die am Ende eines fünfjährigen Kampfes mit andern korrespondiert, als Murat endlich mit seiner Familie im Auto auf dem Weg nach Hause sitzt. Es ist Nacht und er bittet, kurz anzuhalten und einen Moment allein gelassen zu werden, um nach seiner langen Haft den Himmel wiederzusehen. „Versteh’ ich“, sagt Rabiye, und fügt hinzu: „Ich komm mit.“

Das Versagen der Bundesregierung

Es ist eigentlich unmöglich, eine so empörende und zugleich deprimierende juristische Fallgeschichte in einem Film zu verarbeiten, der nicht nur zutiefst menschlich, sondern auch humorvoll ist. Doch Dresen und Laila Stieler gelingt mit „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ ein sozialrealistisches Drama über die Suche nach Gerechtigkeit, das sich mit den besten Filmen von Ken Loach messen kann und in seiner humorvoll-sensiblen Filmsprache zugleich singulär ist.

Der Film versäumt es auch nicht, darauf aufmerksam zu machen, wie viel Unrecht Murat Kurnaz von Seiten der deutschen Bundesregierung zu Teil wurde. Schon im September 2002, ein Jahr nach seiner Verschleppung nach Guantanamo, kam der Bundesnachrichtendienst zu dem Schluss, dass gegen Kurnaz kein Terrorverdacht bestand. Doch die von den USA angestrebte Freilassung erfolgte nicht, da dies vom damaligen Kanzleramtschef und Geheimdienstkoordinator Frank-Walter Steinmeier abgelehnt wurde. Dieser verweigert bis heute nicht nur eine Entschuldigung, sondern bekräftigte 2007 sogar seine damalige Haltung. Während der Inhaftierung, in der Kurnaz fünf Jahre lang der Folter ausgesetzt war, versuchten die deutschen Behörden sogar, ihm das Aufenthaltsrecht zu entziehen und eine Rückkehr nach Deutschland zu verunmöglichen. Es ist der couragierten Arbeit des Anwalts Bernhard Docke zu verdanken, dass dies vereitelt wurde und die Zivilgesellschaft am Schicksal von Murat Kurnaz Anteil nahm. Und nicht zuletzt einer mutigen Frau, deren Liebe zu ihrem Kind keine Grenzen kennt.

Silvia Bahl, FILMDIENST