Filmkritik

Di 29. August 2023
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The Whale

Drama

Regie: Darren Aronofsky

mit: Brendan Fraser (Charlie) · Sadie Sink (Ellie) · Ty Simpkins (Thomas) · Hong Chau (Liz) · Samantha Morton (Mary)

USA 2022 | 117 Minuten | ab 12

Ein extrem übergewichtiger Dozent für kreatives Schreiben, der einsam und allein in einem schäbigen Haus lebt, erfährt, dass er wegen eines Herzleidens nicht mehr lange zu leben hat. Kurz vor seinem Tod will er sich mit seiner heranwachsenden Tochter und ihrer Mutter aussöhnen, die er wegen seines schwulen Partners verlassen hat. Mitreißendes Drama, das vor allem durch die äußere Verwandlung des Hauptdarstellers und seine glaubwürdige Darstellung Aufsehen erregt. Trotz einer Tendenz zum Pathos ein Film, der intensiv von der ambivalenten Kraft zwischenmenschlicher Beziehungen sowie des Glaubens erzählt, die gleichermaßen zutiefst verletzen wie Halt und Hoffnung geben können. - Ab 16.

Langkritik:

Die Qualität von „The Whale“ steht zweifellos im Schatten von Brendan Fraser, der dem Film von Darren Aronofsky seinen unverwechselbaren Stempel aufdrückt – wegen seines Comebacks, seines Imagewechsels, wegen seiner körperlichen Verwandlung und wegen des „Oscars“, den er dafür als Bester Hauptdarsteller erhielt. Brendan Fraser hat in den letzten zehn Jahren kaum von sich reden gemacht, war zeitweilig ganz von der Leinwand verschwunden. Zuvor war er als naiver Schönling in „Eve und der letzte Gentleman“ (1999) oder als entschlossener Actionheld in „Die Mumie“ (1999) bekannt geworden. Wegen all dem begrüßten Filmkritiker schon im Vorfeld des Venedig-Festivals 2022 sein Comeback.

Damit aber nicht genug: Der Sonnyboy von einst spielt einen hässlichen, mitunter unausstehlichen Menschen von 300 Kilo, einen Mann so schwer, dass er nur noch mühsam aus dem Sessel kommt, kaum stehen und nur noch mit einem Gestell gehen kann. Schon das Aufheben eines Gegenstands vom Fußboden ist für ihn eine anstrengende Herausforderung.

Ein Mann bestraft sich selbst

Auch das Make-up-Team, das Fraser in einen unförmigen Fatsuit gesteckt hat, erhielt einen „Oscar“. Die äußere Verwandlung geht einher mit Frasers glaubwürdiger und mitreißender Darstellung. Hier hat sich ein Mann aus Kummer völlig gehen lassen – ohne Rücksicht auf seine Gesundheit, seine Umwelt und sein soziales Leben. Die Willensschwäche, die Fraser hier verkörpert, ist das eigentlich Tragische an diesem Film: Ein Mann bestraft sich selbst, um eine große Schuld abzutragen.

Fraser spielt Charlie, einen Schreibdozenten, der seine Studenten von zuhause aus via Zoom unterrichtet. Dabei schaltet er nie die Kamera ein, um sein eklatantes Übergewicht zu verbergen. Die Körperfülle ist auch an dem schweren Herzfehler schuld, an dem Charlie leidet. Als seine Krankenschwester Liz, die ihn täglich besucht, einen viel zu hohen, fast unmöglichen Blutdruck misst, will sie ihn zwingen, ins Krankenhaus zu gehen. Doch Charlie weigert sich.

Ohne medizinische Hilfe würde er innerhalb einer Woche sterben, teilt Liz (Hong Chau) ihm unverblümt mit. Das bringt den todkranken Mann auf die Idee, sich mit seiner Tochter Ellie zu versöhnen. Vor neun Jahren hat er sie und seine Frau Mary (Samantha Morton) verlassen, um mit seinem schwulen Lebensgefährten zusammenzuziehen, der sich später das Leben nahm. Seitdem hat er Ellie (Sadie Sink) nicht mehr gesehen; ein Versäumnis, das sie ihm nicht verzeihen kann.

Fünfter im Bunde ist Thomas, ein Evangelist, der von Tür zu Tür geht und nichtsahnend in Charlies Wohnung gerät, in der Hoffnung, seine Seele zu retten.

Vorliebe für extreme Charaktere

Ein Mann versucht kurz vor seinem Tode, mit sich und seinen Angehörigen ins Reine zu kommen. So lässt sich die Essenz des Films, der auf dem gleichnamigen Theaterstück von Samuel D. Hunter basiert, auf den Punkt bringen. Am ehestens ist „The Whale“ mit Aronofskys „The Wrestler“ vergleichbar, in dem Mickey Rourke die Entfremdung zu seiner heranwachsenden Tochter überwinden wollte und sich gleichzeitig einer körperlichen Herausforderung stellte.

Beide Filme beweisen Aronofskys Vorliebe für extreme Charaktere. Charlie ist ein Monster, nicht nur äußerlich, sondern auch im Umgang mit sich selbst und anderen. Wenn er mehrere Pizzen übereinanderlegt und gierig in sich hineinstopft, ist dies ein wahrer Moment des Horrors, der sich nur schwer ertragen lässt. Wenn seine Tochter ihn zwingt, ohne Hilfe aufzustehen und auf sie zuzugehen, ist dies mit einer tiefen Rührung verbunden, weil die Szenen einen bedauernswerten Mann in all seiner Hässlichkeit zeigen. Charlie weiß, dass er eine Erlösung sucht. Doch das ändert nichts an seinem Egoismus.

Eine klaustrophobische Welt

Es ist ein schillernder Charakter, der den Film allein getragen hätte. Doch das Drehbuch von Samuel D. Hunter führt mit dem rebellischen Teenager, dem Selbstmord des Partners, einem religiösen Fanatiker und schwuler Pornografie zu viele Nebenschauplätze ein, die den Zusammenhalt der Handlung schwächen. Sichtliche Kontur gewinnt dabei vor allem Hong Chau als Krankenschwester, die Charlie mit nervös-wachen Augen geradezu verfolgt. „The Whale“ spielt binnen einer Woche ausschließlich in Charlies kleinem, schäbigen Haus. Die Klaustrophobie teilt sich unmittelbar mit. Kleine Fluchten in die Außenwelt erlauben nur die Zoom-Sitzungen. Charlie lehrt seine Studenten Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit – Werte, denen er sich selbst verweigert.

Michael Ranze, FILMDIENST