Filmkritik

Di 20. Dezember 2022
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A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe

Drama

Regie: Nicolette Krebitz

mit: Sophie Rois (Anna) · Milan Herms (Adrian) · Udo Kier (Michel) · Nicolas Bridet (Inspektor Gregori) · Lilith Stangenberg (Leah)

Deutschland/Frankreich 2022 | 104 Minuten | ab 6

Eine alternde Schauspielerin erteilt in Berlin Sprech- und Schauspielunterricht bei einem Sozialprojekt, wobei sie sich in einen jugendlichen Taschendieb verliebt, der jüngst ihre Handtasche geklaut hat. Entgegen aller Unterschiede und Differenzen halten die beiden an einer unmögliche Liebe fest und fliehen an die Côte d’Azur bei Nizza. Der Film erzählt leichtfüßig und in Gestalt eines modernen Märchens vom Einbruch des Unfassbaren und seinen Folgen, wobei er zwischen naivem Impetus und ironisch verspielter Reflexion geschickt die Balance hält, wozu auch viele filmgeschichtliche Anspielungen zählen. Eine einfallsreiche Liebesetüde mit Mut zu offenen Bildern, die vor allem durch die Kunst des beiläufigen Erzählens besticht.

Langkritik:

Wild geht es los, mit einer Verfolgungsjagd und einer Dynamik, die sich den restlichen Film über nicht mehr einstellt. Man sieht einen Handtaschenraub auf offener Straße, eine Passantin verfolgt den Dieb durchs nächtliche West-Berlin und stellt ihn nahe dem Bahnhof Zoo; die Frau bekommt ihre Tasche zurück, später merkt sie, dass das Geld fehlt.

Wie selten im Kino erlebt man in dieser ersten furiosen, wie ein Kurzfilm funktionierenden Szene fast wie im Nukleus den folgenden Film und eine Art Geburtsmoment: Die verfolgende Passantin, von der man annehmen könnte, dass es sich um die Hauptfigur des Films handelt, wird von Lilith Stangenberg gespielt, die in dem vorherigen Film „Wild“ von Nicolette Krebitz die Hauptrolle innehatte. Wenn sie ein paar Minuten später in der legendären „Paris Bar“ die zurückeroberte Handtasche der Besitzerin (Sophie Rois) überreicht, ist das wie eine Stabübergabe von einer Hauptdarstellerin zur nächsten.

Ein paar Sekunden eingefrorener Zeit

Zugleich schreibt sich „A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe“ mit diesem Auftakt sehr konkret in einen bestimmten Teil der Metropole Berlin und damit auch in die deutsche Kino-Kartografie ein. Berlin wird darin wie alles andere im Film, die Liebe, der Sex, die Schrullen der Figuren, unaufdringlich, beiläufig, en passant präsentiert.

Im Moment des Überfalls kommt es zu einem kurzen Blickwechsel zwischen Opfer und Täter; ihre Augen treffen sich, was durch Zeitlupe und Schnitt/Gegenschnitt zusätzlich betont wird. Fast alles, was dann folgt, ist in diesem Augenblick eigentlich schon klar, in ein paar Sekunden eingefrorener Zeit und ihrer filmischen Überhöhung. Doch erst eine Filmviertelstunde später treffen die Bestohlene und der Dieb wieder aufeinander. Sie heißt Anna, ist Schauspielerin, selbstbewusst, schrullig, nicht mehr ganz jung und anspruchsvoll. Sophie Rois spielt diese Frau, die auch aus dem Off die Erzählerin und dadurch mit der Haltung des Films identisch ist. Eine Frau, die unter ihrem Älterwerden leidet, die viele Menschen kennt, aber wenig Freunde hat und als Single lebt.

Da für sie die berufliche Auftragslage schlechter als früher ist, arbeitet sie bei einem Sozialprojekt: Ein jugendlicher Gangster (Milan Herms) bekommt Sprech- und Schauspielunterricht. Es ist der junge Dieb, der Adrian heißt. Sie erkennen sich, und dies wird ihr erstes Geheimnis. Die beiden freunden sich an, und sehr schnell wird daraus eine Liebe, deren Grenzen offensichtlich sind. Es ist weniger die Altersdifferenz als vielmehr der Milieu- und Klassenunterschied. Zumal die Mesalliance in den Milieus der beiden scheel beäugt oder gar geächtet wird. Das kümmert sie aber nicht. Denn für den Augenblick ist alles möglich.

In seinen „Fragmente einer Sprache der Liebe“ benutzt der französische Philosoph Roland Barthes das Alphabet als Gliederungsprinzip. Bei Nicolette Krebitz wird dieses Prinzip im Titel wie in den ersten Sätzen der Erzählerin – „Alles fängt mit A an: das Leben, der Schmerz, die Erkenntnis und die Liebe“ – ebenfalls angedeutet. Aber vielleicht ist dies auch nur eine ironische Geste, weil die Namen der beiden Liebenden mit A beginnen: Anna und Adrian. Jedenfalls bricht die Regisseurin schnell mit der in dieser Ordnung angelegten Kontinuität. Auch hier ist die Liebe ein Ausnahmezustand. Barthes schreibt genau darüber, über „das Diskontinuierliche“, Nicht-Fassbare der Liebe: „Der Liebende kann sich nur durch seinen Diskurs definieren. Der Liebende ist ganz Diskurs.“

Fragmentiert und doch wie aus einem Guss

Krebitz unternimmt in „A E I O U“ mit filmisch-visuellen, nicht literarischen Mitteln etwas ganz Ähnliches: Sie zerlegt den Liebesdiskurs, analysiert seine Einzelteile und reflektiert diese Fragmente im Sichtbarmachen. Das Erstaunliche an diesem Unterfangen ist, dass der Film dennoch wie aus einem Guss wirkt und eine große Leichtigkeit ausstrahlt. Zugleich reagiert die Inszenierung darauf, dass man heute nicht mehr unschuldig tun kann, wenn es um die Liebe geht.

Unschuldig ist hier nichts. Aber erkennbar existiert eine Sehnsucht nach Unschuld, nach dem Unverstellten, das aus dem Gestrüpp der ach so reflektierten Diskurse und Redeweisen ausbricht, bei denen jeder weiß, dass der andere weiß, dass man selbst weiß, dass der andere weiß, dass er nur etwas sagt, weil er weiß, dass der andere weiß...

Die Liebe ist ein Chaos. Eine Geschichte zu erzählen bedeutet aber, Ordnung ins Chaos zu bringen. Auch in diesem Fall. Es bedeutet das Mögliche ins Wirkliche zu verwandeln, Wichtiges zu betonen, Unwichtiges wegzulassen, zu werten. Doch „A E I O U“ will immer wieder daran erinnern, dass es sich „nur“ um eine Erzählung handelt. „Es gab keine Geschichte, in der sie sich wiederfanden“, erklärt die Erzählerin einmal. „Sie wollten nicht lügen, aber sie wussten auch nicht, was die Wahrheit war. Wer sie füreinander sein wollten. Sie wussten gar nicht wohin...“ In „A E I O U“ ist, um noch einmal Roland Barthes zu zitieren, „das Bewusstsein vom Irrealen des Filmischen eingegangen“.

Diese Dialektik verleiht dem Film eine dramatische, abwechslungsreiche Struktur und etwas Sprunghaftes, zugleich aber auch eine sehr eigene Künstlichkeit. Denn Krebitz will in ihrer Geschichte das Erzählen sichtbar halten, um die Möglichkeit von anderen Geschichten nicht ganz zum Verschwinden zu bringen; zugleich aber soll der Film an der Oberfläche „funktionieren“. Was durchaus gelingt.

Eine Art modernes Märchen

„A E I O U" lässt sich am ehesten als ein modernes Märchen charakterisieren, als eine Erzählung, die nie sentimental ist (und dies auch unbedingt vermeiden will), sondern naiv wie eben ein Märchen. Die Dinge sind, wie sie sind. So ist die von Udo Kier verkörperte Figur des Vermieters ganz und gar aus der Zeit und aus anderen Filmen gefallen, eine romantische Kunstfigur, genauso wie ein Arzt oder ein Polizist, die im Laufe der Erzählung auftreten. Sie erfüllen Funktionen, und das gelingt, weil man solche Figuren schon tausendundeinmal gesehen hat.

„A E I O U" spielt hingegen ganz und gar nicht mit den Mythen der Filme, an die er in bestimmten Augenblicken von fern erinnert, an „Außer Atem“ von Godard oder „Die blonde Sünderin“ von Jacques Demy.

Nicolette Krebitz ist nicht erst seit „Wild“ eine der originellsten deutschen Regisseurinnen. Ihr neuer Film ist weniger wild, dafür gelassener. Mit dem Mut zum Erzählen in offenen Bildern gelingt ein poetisches, bildmächtiges Kino. Mit unkonventionellen Figuren kreiert Krebitz unvergessliche Momente. Besonders interessant ist dabei, wie die Regisseurin, die zugleich eine erfahrene Schauspielerin ist, mit anderen Schauspielern arbeitet. Die unkontrollierbare Sophie Rois spielt hier auch immer so wie in ihrem eigenen Film, und zugleich hat man sie auf der Leinwand noch nie so diszipliniert und im Dienst des Ganzen gesehen. Und dem von der Straße weg gecasteten Milan Herms merkt man nie an, dass es sich bei seinem Auftritt als Adrian um sein Debüt handelt.

Die Kunst des Beiläufigen

Im letzten Film-Drittel landet das ungleiche Paar, der kleine Hochstapler und die Schauspielerin, in Nizza und damit mitten in einem Patchwork aus Nouvelle-Vague-Filmen. Manches ist hier aus zweiter Hand, aber nichts ist einfach nur abgepaust oder eine Pose. Vielmehr schreibt sich Krebitz mit so intelligenten wie lustvollen Anspielungen charmant in die europäische Filmgeschichte ein und ein bisschen aus den deutschen Kinokonventionen hinaus. Damit ist „A E I O U“ ein positiver Solitär: klüger, niveauvoller und auch lustiger als die allermeisten deutschen Filme der letzten Jahre. Er besticht durch seinen Einfallsreichtum und die Lust am Hedonismus. So gibt es eine Handvoll origineller Szenen, die in ihrem kruden Humor und ihrer sanften Provokationslust von keiner anderen Regisseurin stammen könnten.

In Erinnerung bleibt aber vor allem die Lässigkeit und die Fähigkeit zum beiläufigen Erzählen, zum unaufdringlichen Zeichensetzen. Das ist vielleicht die schwerste aller Künste. Nicolette Krebitz beherrscht sie besser als andere deutsche Filmschaffende. Das fällt umso mehr ins Gewicht, weil die Kunst des Beiläufigen die eigentliche Kunst des Filmemachens ist.

Rüdiger Suchsland, FILMDIENST