Filmkritik

Di 26. Oktober 17.20 und 19:45 Uhr
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Vor mir der Süden

Dokumentarfilm

Regie: Pepe Danquart

Deutschland 2020 | 117 Minuten | ab 0

1959 unternahm der Schriftsteller Pier Paolo Pasolini eine Reise entlang der italienischen Küste, von Ventimiglia bis Triest. Daraus entstand eine Reportage über die nivellierende Transformation der italienischen Nachkriegsgesellschaft. 60 Jahre später wiederholt der Filmemacher Pepe Danquart diese Reise, um den Blick von Gestern mit der Gegenwart zu konfrontieren. Der Befund dieses dunkel-luftigen Road Movies ist von erschütternder Trostlosigkeit, die nicht nur Pasolinis Pessimismus bei weitem übertrifft, sondern gleichzeitig von der Zukunft Südeuropas unter den Bedingungen einer kommenden Weltordnung erzählt.

Langkritik:

Im Juni 1959 setzte sich Pier Paolo Pasolini im Auftrag der Zeitschrift „Successo“ in der Stadt Ventimiglia an der italienisch-französischen Grenze in einen Fiat Millecento und fuhr damit der Küste entlang 3000 Kilometer bis nach Triest. Dabei entstand ein subjektiver, mitunter poetischer, durchaus auch komischer Reisebericht voller Impressionen aus einem Land im Umbruch, der unter dem Titel „Die lange Straße aus Sand“ mit reichlicher Verspätung auch hierzulande publiziert wurde.

Pasolini brach damals zu einem Abenteuer auf, dessen Eindrücke sich später zu einer radikalen Kritik des gleichmacherischen Konsumismus verdichteten, der das Nachkriegsitalien in ein Land der Kleinbürger transformierte, in eine Art neuen Faschismus mit dem schönen Namen „Wohlstandsgesellschaft“. Auf seiner Reise registrierte Pasolini die Zurichtung ganzer Landschaften für den neuen Massentourismus, die Homogenisierung der Sprache oder die Zerstörung der traditionellen bäuerlichen Agrargesellschaft.

„Da ist Afrika!“

Der Aufbruch in Richtung Wirtschaftswunder geschah in Italien mittels einer Massenmigration von Süden nach Norden. Wenn die Arbeit suchenden Italiener in Mailand in Viscontis „Rocco und seine Brüder“ aus dem Zug steigen, werden sie mit „Da ist Afrika!“ begrüßt. Man sollte „Die lange Straße aus Sand“ indes nicht zu hoch hängen. Pasolini selbst charakterisierte die Texte als „ganz kleine, stenographierte Reisebilder, in denen ich kaum unter die oberste Schicht vorgedrungen bin“.

Immerhin aber inspirierte die aufwändig gestaltete deutsche Buchausgabe den Filmemacher und Pasolini-Fan Pepe Danquart, einen lang gehegten Plan endlich zu realisieren. 60 Jahre nach Pasolini setzte sich auch Danquart in einen Fiat 1100 und fuhr dessen Route nach. Mit einem kleinen, flexiblen Team, das spontane Begegnungen am Rande der Strecke erlaubte. Allerdings wählte Danquart als Reisezeit den September und Oktober 2017, vor der Pandemie und nach dem „Ferragosto“, was dem Film eine leicht herbstliche Tristesse leerer Strände einschreibt.

Danquarts Projekt ist nicht unambitioniert. Einerseits galt es, Impressionen von Land und Leuten einzufangen. Dazu kommen die Reisenotizen Pasolinis, vorgetragen von Ulrich Tukur, die nach 60 Jahren mitunter etwas verquer zu den Bildern von heute stehen. Dann gibt es auch noch Super 8-Material, Archivmaterial mit Pasolini, der den Verlust kultureller Identität in der neuen Konsumgesellschaft beklagt und seine Hoffnungen auf das Subproletariat der Vorstädte setzt.

Italien: Kein Sehnsuchtsland

Vielleicht wollte Danquart etwas zu viel: Impressionen aus Italien inmitten der gesamteuropäischen Migrationskrise unter Innenminister Matteo Salvini, vielleicht sogar im Rekurs auf die radikalen kultur- und kapitalismuskritischen Interventionen Pasolinis, dazu noch Belege für die andauernde Präsenz Pasolinis bei der Bevölkerung, alles verhandelt über die diffizile historische Distanz von 60 Jahren.

Natürlich kommt auch Kameramann Thomas Eirich-Schneider nicht um einige eindrucksvolle Landschaftspanoramen entlang der Küstenstraßen herum, doch der Schwerpunkt dieses komplexen Reise-Essayfilms liegt woanders. Denn nach „Vor mir der Süden“ lässt sich nur noch schwer von Italien als einem Sehnsuchtsland sprechen. Fast schon polemisch abstoßend sind die Bilder von den Verheerungen des Massentourismus, sei es in Jesolo, auf Capri oder in Venedig. Alle Strukturen abseits des Tourismus sind verschwunden. Der Ort in Ostia, an dem Pasolini 1975 ermordet wurde, ist noch immer so trostlos wie in „Caro Diario“ von Nanni Moretti, damals immerhin mit Klängen aus „Köln Concert“ von Keith Jarrett unterlegt. Ein von der ursprünglichen Reiseroute abweichender Besuch in Matera ist eine Verbeugung vor Pasolinis „Das 1. Evangelium – Matthäus“.

In Kalabrien gibt es Badeorte, in denen es nur einen Monat im Jahr Arbeit gibt, aber das nächste Krankenhaus 50 Kilometer entfernt liegt. In Süditalien werden traditionelle Handwerke nicht mehr ausgebildet, die Dörfer stehen verlassen, die Strände sind verwaist. Mehr noch: Der Charme, die Anziehung einer ungewöhnlichen Kombination aus Modernität, Eleganz, Lifestyle bei gleichzeitig bröckelnden Fassaden und pragmatischer Provisorien, den man vielleicht aus Mailand oder Bologna erinnert, fehlt in „Vor mir der Süden“ vollkommen.

Europa existiert nur in den Köpfen

Je tiefer der Film Richtung Süden vordringt, desto mehr erscheint Italien als „terzo mondo“, als Dritte Welt. Keine pastoralen Landschaften, sondern Steppen, mit Autowracks am Straßenrand und rostenden Schiffen an der Küste, dazu, fast schon ironisch, geflüchtete Afrikaner, die als Tagelöhner auf Tomaten-Plantagen arbeiten, wo sie so wenig verdienen, dass es nur zu unwürdigen Lebensumständen reicht. Auf das Mittelmeer ist kein schwärmerischer Blick mehr möglich; dabei hatte Pasolini einst große Hoffnungen auf Afrika gesetzt. Sein Gedicht „Ali mit den Blauen Augen“, das fast schon prophetisch von Flüchtlingsbooten aus Afrika erzählt, wird rezitiert, doch die Pointe „Sofort werden die Kalabresen sagen / Wie das Pack zum Pack: / Seht da die alten Brüder, / mit Kindern, Brot und Käse!“ bleibt unerfüllt. Migranten sind unerwünscht. In Italien, in Europa. „Europa existiert nur im Kopf!“, heißt es einmal.

Dass Danquart nachdrücklich ein zweites Buch in den Blick rückt, Michael Glawoggers „69 Hotelzimmer“, gibt seinem gleichermaßen dunklen wie luftigen Reisefilm eine weitere Dimension, denn die umfassende Trostlosigkeit von „Vor mir der Süden“ weist durchaus Ähnlichkeiten mit Glawoggers „Workingman’s Death“ auf. Unter den drei Reisenden Pasolini, Glawogger, Danquart war der radikale Kulturkritiker Pasolini noch der optimistische. Er hatte noch Hoffnung auf Veränderungen zum Positiven, während Danquart vielleicht schon Bilder von der Zukunft Europas entwirft, in der sich die gerade verschiebenden globalen Hegemonien etabliert haben werden.

Ulrich Kriest, FILMDIENST