Filmkritik

Di 8. Dezember 19.30 Uhr (evtl. auch nachmittags 16:30 Uhr)
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Corpus Christi (2019)

Drama

Regie: Jan Komasa

mit: Bartosz Bielenia (Daniel) · Aleksandra Konieczna (Lidia) · Eliza Rycembel (Marta) · Tomasz Zietek (Pinscher) · Barbara Kurzaj (Witwe)

Polen 2019 | 115 Minuten | ab 0

Ein in der Haft bekehrter junger Mann wird nach Ostpolen aufs Land geschickt, wo er sich in einem Sägewerk bewähren soll. In dem fremden Dorf gibt er sich als Priester aus und übernimmt die Stelle des erkrankten Pfarrers, was sich als Glücksfall entpuppt, da er nach einem tragischen Unglück die aufgebrachte Atmosphäre mit unkonventionellen Mitteln zu befrieden versucht. Das mit kühler Sachlichkeit inszenierte Drama erinnert an die Filme von Robert Bresson und entwirft ein differenziertes Zeitbild der polnischen Gesellschaft, die mit moralisch-ethischen Herausforderungen ringt. - Sehenswert

Langkritik:

Nach Pawel Pawlikowskis Filmen „Ida“ (2013) und „Cold War“ (2018) sorgt derzeit ein weiterer polnischer Film auf nationalem wie internationalem Parkett für Furore: „Corpus Christi“ von Jan Komasa. Der Preisregen bei den polnischen Filmpreisen, wo das Drama zehn von 15 möglichen Trophäen auf sich vereinte, war nur ein weiterer Höhepunkt seiner Erfolgsgeschichte. Seit der Uraufführung bei den Filmfestspielen in Venedig 2019 lief die Studie auf mehr als 60 Festivals weltweit, wurde für den Auslands-„Oscar“ nominiert und in über 50 Länder verkauft. Tatsächlich gab es unter den mehr als 70 polnischen Spielfilmproduktionen des Jahres 2019 keine einzige Arbeit, die es vom intellektuellen Anspruch und der formalen Souveränität her auch nur annähernd mit „Corpus Christi“ hätte aufnehmen können.

Ein „falscher“ Priester

Neben den Preisen der Fachjurys – unter anderem als bester Film, für die beste Regie, die beste Kamera, den besten Schnitt und die besten Haupt- und Nebendarsteller – erhielt „Corpus Christi“ auch den Publikumspreis. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass Komasa und seine Mitstreiter bei den polnischen Zuschauern einen Nerv getroffen und vielleicht sogar dazu beigetragen haben, offene Wunden zum Heilen zu bringen. Ihre Hauptfigur Daniel ist ein „falscher“ Priester, also keiner von jenen tatsächlichen kirchlichen Würdenträgern, die wie in dem vieldiskutierten Erfolgsfilm „Klerus“ (2018) von Wojciech Smarzowski alkoholsüchtig sind, Kinder missbrauchen und streng verbotene Kontakte zu homosexuellen Seilschaften unterhalten. Ganz im Gegenteil: Daniel versieht seinen selbsterwählten Dienst ohne Arg, unorthodox und verantwortungsvoll, sehr nahe an denen, die seines Zuspruchs und seines Trostes bedürfen.

Wer, so fragt der Film, darf eigentlich im Namen Gottes sprechen? Nur die Vertreter der tradierten, aber in heftiger Kritik stehenden Institution Kirche? Oder nicht auch derjenige, der zwar ohne jede Ausbildung ist, aber sich dennoch berufen fühlt, durch Worte und Gesten Gutes zu tun für die Menschen seiner Umgebung? Lädt Daniel, indem er sich das Gewand des Priesters überstreift, Schuld auf sich? Bewirkt sein Tun nicht gleichzeitig auch Vergebung?

Outlaws können nicht Pfarrer werden

Daniel ist 20 und zu Beginn des Films hinter Gittern. Warum er in Jugendhaft sitzt, weiß man nicht genau, es könnte Rowdytum gewesen sein. Drinnen dient er dem charismatischen Gefängnispater als Messdiener, schnappt dabei die eine oder andere Gebetsformel auf, findet Gefallen an den Predigten, würde nach der Haftstrafe selbst gerne in ein Seminar eintreten. Doch Outlaws wie er, so erfährt er, haben keine Chance, Geistliche zu werden. Als er zur Bewährung in ein ostpolnisches Provinznest geschickt wird, um dort in einem Sägewerk zu arbeiten, hat er eine geklaute Kutte bei sich. Im fremden Dorf gibt er sich instinktiv als neuer Priester aus und tritt die Stelle des alten, plötzlich erkrankten Seelsorgers an.

Der Schauspieler Bartosz Bielenia verleiht diesem Daniel keineswegs die Aura einer Heiligenfigur, im Gegenteil: Sein wie gemeißelter Schädel und der drahtige Körper weisen ihn als jemanden aus, der schon allerhand Böses erlebt hat und selbst hart auszuteilen vermag. Seine blauen Augen wirken kühl und stechend; da lauern Abgründe. In den ersten Szenen des Films sieht man ihn denn auch als Aufpasser bei einer Gefängnisprügelei; und später, unmittelbar nach der Entlassung, gibt er dem Affen Zucker, als er das freie Leben in vollen Zügen genießt.

Zartheit und Gewalt, Stille und Schrei

Diese Ambivalenz, der Seiltanz zwischen der mühsamen Bändigung eigener Affekte und deren Eruption, zwischen Zartheit und Gewalt, Stille und Schrei, macht die Figur reich und ihre Geschichte unvorhersehbar. Auf diese Weise gerät „Corpus Christi“ zu einem Film voller Geheimnisse, der den Betrachter in ein Wechselbad der Gefühle versetzt. Ein Filmkritiker attestierte ihm in der „Los Angeles Times“ zurecht eine „quälende Spannung, in der die ständige Möglichkeit des Untergangs mitschwingt, eine Ahnung, dass jederzeit alles passieren kann, um Chaos und Ruin hervorzurufen“.

Die kühle Sachlichkeit, mit der Komasa den Fall inszeniert, sein moralischer Impetus, aber auch das Metaphysische der Hauptfigur, das nicht Fassbare ihres Verhaltens, erinnert an die Stilistik eines Robert Bresson oder die Heldenbilder eines Georges Bernanos. Tatsächlich finden sich in dem Werk von Bernanos viele Sätze, die den Kern von „Corpus Christi“ ziemlich genau skizzieren: „Wir alle müssen das Leben meistern, aber die einzige Art es zu meistern, besteht darin, es zu lieben.“ Oder: „Was wir Zufall nennen, ist vielleicht die Logik Gottes.“

Dabei scheut der Film durchaus nicht davor zurück, Kinokonventionen zu bedienen. Im Dorf begegnet Daniel einer jungen Frau, in die er sich verliebt und umgekehrt; eine Liebe, die es nicht geben darf. Und um Daniels seelische Heilkunst zu belegen, kommt ein tragischer Unglücksfall ins Spiel, der große Schatten auf die Gemeinde wirft: Bei einer Autokollision, die ein junger Mann aus dem Dorf verschuldete, kam ein halbes Dutzend Gleichaltriger ums Leben. Daniel versucht mit seinen ungewöhnlichen Mitteln, die daraus resultierende, von Wut, Hass, Ausgrenzung und Rache beladene Atmosphäre zu befrieden. Dass er, wenn er die Beichte abnimmt, immer mal wieder aufs iPhone schaut, um die der Vorschrift entsprechenden Worte zu finden, sorgt bisweilen sogar für unerwartet heitere Momente.

Mehr Fragen als Antworten

„Corpus Christi“ endet offen: Komasa verabreicht kein Eiapopeia vom Himmel, sondern Blut und Tränen. Zurückgeworfen in sein altes Umfeld, brechen verdrängte Muster neu hervor; auch Daniel ist vom Absturz in die Finsternis nicht gefeit. Ein Finale, das mehr Fragen stellt, als Antworten offeriert.

Für Jan Komasa ist „Corpus Christi“ erst der dritte lange Kinofilm. Sein Drama „Suicide Room“ (2011) über die Flucht eines Jungen aus der realen Welt in die virtuellen Untiefen des Internets lief im Panorama der „Berlinale“. Das Kriegsepos „Warschau 44“ (2014) geriet dann zur schillernden, an den Zeitgeist angepassten Pop-Rekonstruktion des Warschauer Aufstands. Mit „Corpus Christi“ geling ihm nun ein differenziertes Zeitbild, das moralisch-ethische Probleme der Gegenwart zur Diskussion stellt.

Ralf Schenk, FILMDIENST