Filmkritik

Do 20. Februar 2020 und Di 25. Februar 2020 17.30 und 20 Uhr
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Der Distelfink

Drama

Regie: John Crowley

mit: Ansel Elgort (Theo Decker) · Oakes Fegley (Junger Theo) · Aneurin Barnard (Boris Pavlikovsky) · Finn Wolfhard (Junger Boris) · Nicole Kidman (Mrs. Barbour)

USA 2019 | 150 Minuten | ab 12

Ein Mann rekapituliert in einem Hotelzimmer in Amsterdam seine traumatische Lebensgeschichte, in der ihm als Kind ein Bombenanschlag auf das Museum of Modern Art in New York nicht nur die Mutter raubte, sondern auch ein kleines Gemälde in die Hände spielte, das ihm als imaginärer Fluchtpunkt bei den anderen Katastrophen seines Daseins diente. Die vielschichtige Adaption eines preisgekrönten Romans trägt zwar schwer an der Last des literarisch ausdifferenzierten Erzählkosmos schicksalhafter Begegnungen, arbeitet aber glaubhaft das Ringen des Protagonisten mit Schuldgefühlen und tiefen menschlichen Verlusterfahrungen heraus.

Langkritik:

Manche Ereignisse sind so schmerzhaft, dass sie das eigene Leben zerreißen und die Bruchstücke immer wieder um dieselbe Leerstelle kreisen lassen. Im Nachhall des Schocks steht die Zeit still und hält den Traumatisierten zugleich in ihr gefangen. Die Schriftstellerin Donna Tartt hat in ihrem mit dem Pulitzer-Preis auszeichneten Roman ein Bild gefunden, um das sich die zerstörten Existenzen ihrer Protagonisten wiederholt versammeln: „Der Distelfink“, ein kleines, rätselhaftes Gemälde des holländischen Malers Carel Fabritius. In der Geschichte des Romans, den Regisseur John Crowley weitgehend ungekürzt für die Leinwand adaptiert, wird es zum Gravitationszentrum des Undarstellbaren.

Flashbacks dominieren die Struktur des Erzählers Theo (Ansel Elgort), der in einem Hotelzimmer in Amsterdam am Tiefpunkt seines Lebens angekommen ist. An dessen Anfang steht ein Bild, das ihm immer wieder zu entgleiten droht: die eigene Mutter, schemenhaft und im Fortgehen begriffen. In den ihn heimsuchenden Erinnerungsfetzen ist er noch ein Kind und lässt sich durch das Museum of Modern Art in New York treiben. Sein neugieriger Blick richtet sich weniger auf die Bilder als auf ein rothaariges Mädchen. Im Bruchteil von Sekunden reißt diese Wirklichkeit entzwei, als eine Explosion die Ausstellungsräume in Staub und Asche verwandelt und dabei das Leben von Theos Mutter auslöscht.

Trauer und Tabletten

Theo weiß noch, dass er wie in Trance nach Hause gelaufen ist und die Polizisten von einem Terroranschlag sprachen. In der Folge landete er in der Obhut der Familie eines Bekannten, da sein Vater schon lange den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte.

Die erste längere Episode des Films widmet sich diesem unmittelbaren Nachleben der Katastrophe und einer Frau, die für Theo nicht nur zur Ersatzmutter, sondern auch zum Spiegel seiner Unfähigkeit zu trauern wird: die ebenso schöne wie starre Mrs. Barbour (Nicole Kidman) erträgt ihr liebloses Dasein nur mit dezentem Tablettenkonsum und hilft auch Theo, mit Beruhigungsmitteln seine Albträume zu betäuben.

Ein schwerer Siegelring führt ihn bald darauf in das Antiquitätengeschäft Hobart & Blackwell zu einem Mann, der sich für den Jungen als Mentor und Vaterersatz erweist. Das Schmuckstück wurde ihm im Museum von einem Sterbenden mit der Bitte übertragen, es seinem Lebenspartner zurückzubringen. In der Fassungslosigkeit über ihren gemeinsamen Verlust beginnen James Hobart und Theo einen Dialog über die Restauration alter Möbel, eine Leidenschaft, die für den Jungen den Beginn seiner Lebensaufgabe bildet.

Doch obgleich Theo etwas aus dem Abgrund des Todes zurückgebracht hat, wird bald deutlich, dass er zugleich etwas für sich behalten wollte: Eingeschlagen in Zeitungspapier versteckt er den „Distelfink“, den er im Zuge des Anschlags aus dem Museum entwendet hat. Als letzter Berührungspunkt mit seiner Mutter wird das gestohlene Gemälde zu einem melancholischen inneren Objekt, das Theo nicht gehen lassen will.

Verdrängte Verluste

Die Hoffnung auf ein neues Leben währt jedoch nur kurz, als sich nach einer Weile Theos leiblicher Vater (Luke Wilson) mit einer neuen Lebensgefährtin zurückmeldet und den Jungen erneut aus allen Zusammenhängen herausreißt. Von der düster-melancholischen Ostküste geht es in ein nicht minder tristes Dasein in die Wüste von Nevada und in eine kleine Siedlung bei Las Vegas.

Die zweite Episode kontrastiert die erste in fast jeder Hinsicht. Das wohlhabende und kühle Umfeld weicht der grellen Hitze eines Lebens in Perspektivlosigkeit und Armut. Eine Kontinuität beginnt sich fortan durch Theos Alltag zu ziehen: Der regelmäßige Konsum von schweren Betäubungsmitteln.

In der Schule trifft er auf einen anderen Jungen, der ein ebenso wurzelloser Außenseiter ist wie er. Der zierliche Ukrainer Boris hat es längst aufgegeben, so zu tun, als wäre sein Leben normal. Die Schläge seines gewalttätigen Vaters, der ihn wegen Ölbohrungen durch die ganze Welt schleppt, versucht er durch Alkohol und Drogen zu ertragen. Zwischen den beiden ungleichen Jugendlichen entsteht in Momenten des geteilten Rausches eine Nähe, in der sie ihre schmerzhaften Geheimnisse miteinander teilen.

Trugbild oder Phantasma?

Doch in der Beziehung zu Boris spiegelt sich bereits ein Motiv, das die gesamte Geschichte umtreibt: Was, wenn etwas, das uns überlebenswichtig erscheint, sich plötzlich als Illusion entpuppt, als Trugbild, hinter dem sich lediglich ein Abgrund aus Schmerz und Leere verbirgt?

„Der Distelfink“ verweist mit seiner Geschichte als Trompe-l’oeil-Gemälde bereits darauf hin. Der realistisch abgebildete, schillernde Vogel ist mit einer am Fuß befestigten Kette an die Konsole gefesselt, auf der er sitzend den Blick des Betrachters erwidert. Es ist das letzte Bild von Fabritius, der selbst bei der Explosion einer Munitionsfabrik im Jahr 1654 ums Leben kam, bei der auch ein Großteil seines Werks zerstört wurde. Das ist eine weitere Verdopplung, mit der die Romanvorlage von Donna Tartt spielt, wenn es zum Bild des Überlebens wird, das der Protagonist Theo schließlich wieder in eine teilbare Sphäre des Sozialen entlassen muss, wenn er selbst weiterleben und sein Schuldgefühl darüber überwinden will.

Doch die Narration des Films ist noch weit vielschichtiger und verschlungener. Die filmische Anverwandlung hat es gegenüber dem 800 Seiten langen Werk allerdings schwer. Der Roman kann sehr viel deutlicher markieren, dass all die schicksalhaften Wiederbegegnungen der Protagonisten und ihre miteinander verwobenen Geschichten selbst eine schillernde Metaerzählung bilden, die davon handelt, dass das Traumatische uns zwar zerreißt, jedoch gleichzeitig auch mit anderen verbinden kann, die selbst Verletzung und Tod ausgesetzt waren. Durch die bindende Kraft der Kunst gelingt dies auch über mehrere Zeitalter hinweg, und was sie antreibt, ist das Vermögen der Vorstellungskraft.

Die Kraft der Fantasie

So gibt es auch in Theos Leben nicht nur Verhältnisse, die sich als trügerisch erweisen, sondern auch Substitute, die durch die Fantasie eine eigene, wertvolle Realität gewinnen, so wie die Ersatzeltern, die er findet. Vielleicht hätte die Inszenierung mitunter etwas mehr filmisches Eigenleben vertragen, doch Crowley gelingt zumindest eine Literaturverfilmung im besten Sinne, die eine ganze Reihe der vielfältigen Bezüge ihrer Vorlage aufnehmen und das Ringen des Protagonisten mit seinen traumatischen Erfahrungen glaubhaft vermitteln kann.

Silvia Bahl, FILMDIENST