Filmkritik

Di 20. November 17.30 und 20 Uhr
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Das Prinzip Montessori – Die Lust am Selber-Lernen

Dokumentarfilm

Regie: Alexandre Mourot

Frankreich 2017 | 105 Minuten

Der Filmemacher Alexandra Mourot beobachtet zwei Jahren lang das Leben seiner eigenen Tochter und anderen Kindern im ältesten Montessori-Kindergarten Frankreichs in Roubaix.

Langkritik:

Am Anfang war Anna. Ein neugeborenes Mädchen, etwa drei Monate alt, liegt freundlich-friedfertig in der Wiege. „Als meine Tochter geboren war, verbrachte ich von plötzlicher Liebe erfüllt Stunden damit, sie zu betrachten, um das Geheimnis dieses neuen Lebens zu ergründen“, beginnt der französische Filmemacher Alexandre Mourot seine dokumentarische Reise in den Kosmos der „Montessori“-Pädagogik. Mourots Kamera zeigt den eigenen Nachwuchs anfangs bildfüllend und leicht untersichtig. Obwohl seine Tochter im ersten Moment sanftmütig in die Linse blickt, registriert der Mann hinter der Kamera schnell ihren Drang, selbst aktiv zu werden, sich weiter bewegen zu wollen und neue Liegepositionen auszuprobieren. „Alles, was sie tat, schien sie sehr ernst zu nehmen. Je anspruchsvoller das Projekt, umso motivierter war sie. Schon nach sechs Monaten verfolgte sie ihre eigenen Interessen.“ Von diesen intimen wie lehrreichen Momentaufnahmen seiner Tochter ausgehend begann der Ingenieur, sich intensiver mit den pädagogisch-didaktischen Lehrmethoden von Maria Montessori (1870-1952) vertraut zu machen. Und zwar konkret anhand weiterer Alltagsexperimente mit seiner neugierigen Tochter, die unentwegt neue Dinge erlernen, verfeinern und probieren wollte. „Sich selbst mit einem Kürbis auf der Decke drehen“, heißt eine der kleinen Lektionen von Mourots „Montessori“-Momenten, in denen der Lehrende vor allem eines tun soll: zuschauen. Und nicht: eingreifen, anweisen, prüfen, wiederholen. „Kinder haben eine natürliche, ungerichtete Neigung zur Arbeit. Sie wollen lernen“, fasste die 1870 bei Ascona geborene italienische Reformpädagogin eine ihrer zentralen Thesen zusammen. „Als ich das beobachtete, war ich überrascht und ungläubig. Ich begann, darüber nachzudenken, zu zweifeln und Dinge zu überdenken, bis ich überzeugt war: Der Drang zu lernen ist Kindern, ja allen Menschen, inhärent.“ Ebenso, wie der ureigene „Drang zu arbeiten in der Natur des Kindes liegt“. Auf der Basis dieser beiden elementaren Erkenntnisse kreierte Montessori ab 1900 ein neuartiges Lehr- und Lernkonzept: die gleichnamige „Montessori“-Schule, auf die auch Mourot seine Tochter zur weiteren Erziehung schickt. Gleichzeitig quartierte er sich zwei Jahre lang mit der Kamera im französischen „Montessori“-Kinderhaus „Jeanne D’Arc“ in Roubaix ein, um Konkretes über diese besondere Form der Erziehung und Vorschulförderung zu erfahren. Hier spielen, „arbeiten“ und lernen etwa 30 drei- bis sechsjährige Kinder unter der Leitung von Christian Maréchal miteinander, voneinander – und gewissermaßen auch füreinander. „Hilf mir, es selbst zu tun“, lautete Montessoris oberstes Gebot. Das sieht und spürt man in Mourots gänzlich zurückgenommen Kameraeinstellungen, die mit Weitwinkelobjektiven und einer extremen Tiefenschärfe eine formal-ästhetisch anregende „Mittendrin-statt-nur-dabei“-Perspektive eröffnen. Problematisch wird dieses filmische Setting direkt aus der Innenraumperspektive des Klassenzimmers, wie man es jüngst auch in „Miss Kiet’s Children“ (fd 45 129) erleben konnte, allerdings immer dann, wenn plötzlich O-Töne mit „Montessori“-Grundsätzen aus dem Off erklingen, die beim parallelen Selbststudium dieser Ideen auf der Leinwand mehr verwirren denn erhellen. Zwischentafeln, klassische Experten-O-Töne, spielerische Animationen oder kurze Pausen zwischen den unzähligen Innenraumszenen hätten an dieser Stelle deutlich mehr Sinn gemacht. Zudem setzen die eingestreuten „Montessori“-Ideale in ihrer unkommentierten Vielzahl durchaus auch ein pädagogisches Grundwissen voraus, was es im Verbund mit Mourots losem Beobachtungsstil nicht immer leicht macht, dem narrativen Bogen des Films zu folgen. Einen echten dramaturgischen Faden sucht man vergebens, weshalb auch die eigentlich so zentralen Kinder trotz ihres spürbaren Lerneifers verhältnismäßig fremd bleiben. Beim genaueren Blick in ihre Augen und auf ihre Hände sowie auf die gegenseitigen „Ausprobieren-und-Beobachten“-Situation zwischen einem Kind und einem Lehrer hätten sich einige Dinge über das spezielle „Montessori“-Konzept („Die Aufgabe der Umgebung ist es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren“) in Erfahrung bringen lassen, um sie im Anschluss in eine umfassendere narrative Ebene einzubetten. Auch von Valentine, Léa, Agathe und Charlie, ihren Eltern und Lehrern, oder überhaupt von den Erfolgen wie Misserfolgen dieser Erziehungsmethodik erfährt man nichts wirklich Wichtiges; scheinbar funktioniert in Roubaix alles, von Anfang bis Ende und durch alle Altersstufen hindurch. Brot backen, lesen lernen, rechnen, schlafen oder spielen: alles kein Problem! Mourots einfallslose, formal monotone Gestaltung trägt dazu bei, dass der Blick in dieses hochspannende Themenfeld recht nichtssagend ausfällt.

Simon Hauck, FILMDIENST