LINSE - Lichtspielkunst in Segeberg

Zurück

Filmkritik

Di 19. Dezember 17.30 und 20 Uhr
4.jpg

Das ist unser Land

Drama

Regie: Lucas Belvaux

mit: Émilie Dequenne (Pauline Duhez), André Dussollier (Philippe Berthier), Guillaume Gouix (Stéphane Stankowiak / Stanko), Catherine Jacob (Agnès Dorgelle), Anne Marivin (Nathalie Leclerc), Patrick Descamps (Jacques Duhez), Charlotte Talpaert (Nada Belisha), Stéphane Caillard (Victoire Vasseur), Cyril Descours (Jean-Baptiste Verhaeghe), Michel Ferracci (Dominique Orsini)

Frankreich/Belgien, 2017, ab 12, 119 min.

Zur Image-Aufbesserung will eine rechtspopulistische französische Partei eine beliebte Krankenschwester als Kandidatin in die Kommunalwahlen schicken. Die bis dahin unpolitische Frau lässt sich nach anfänglichem Zögern überreden und nimmt Konflikte mit Patienten, Freunden und Familie in Kauf, bis sie die wahre Natur ihrer Förderer zu durchschauen beginnt. Satirisches Drama, das pointiert auf den verschleierten Rassismus moderner rechter Gruppierungen und die Selbsttäuschung typischer Protestwähler abzielt. Der hervorragend gespielte Film greift aktuelle Auswüchse von Fremdenfeindlichkeit auf.

Langkritik:

In der Dämmerstunde schaut alles friedlich aus. Wenn die Kamera zu Beginn über die nordfranzösische Landschaft kreist, liegt über den menschenleeren Feldern, Bergen, Städten und Straßen noch eine grenzenlose Ruhe. Doch unter der Oberfläche verbirgt sich so manches Bedrohliche, das ans Licht drängt, so wie die alte Granate, auf die ein Bauer beim Pflügen stößt und die er gelassen zur Seite räumt, wo bereits weitere Weltkriegsrelikte liegen. Das reale Ereignis, das in der Umgebung der früheren Schlachtgebiete vorkommt, dient dem belgischen Regisseur Lucas Belvaux als Metapher für das Kommende: Auch in den Menschen ist Unheil mitunter insgeheim bereits angelegt und braucht nur einen Anstoß, damit es zum Vorschein kommt.

Belvaux’ Hauptfigur, die Krankenschwester Pauline, präsentiert sich zunächst äußerst sympathisch. Vom Morgen bis zum Abend ist sie auf den Beinen und macht die Runde durch die Häuser ihrer Patienten, bleibt auch geduldig und freundlich, wenn die Kranken schwierig oder ausfallend werden. Die Nerven verliert Pauline nur, wenn sich ihr Ex-Mann mal wieder vor der Mitverantwortung für ihre beiden Kinder drücken will. Doch wenn sie nachdenkt, gibt es einiges, was ihr missfällt: Da ist das Verhalten einzelner Patienten wie einer Muslimin unter der Fuchtel ihres traditionellen Mannes, da ist die hohe Arbeitslosenzahl in Nordfrankreich, da sind die Einsparungen im Sozialbereich und andere Beweise für die Gleichgültigkeit der Regierung in Paris. Aber ändern könne sie ja doch nichts, deswegen gehe sie auch nicht wählen, verrät Pauline ihrem väterlichen Freund, dem Arzt Berthier. Der aber widerspricht: Es gäbe für die Anliegen der kleinen Leute bereits die richtige Partei, nun müsse sie nur noch mit guten Kandidaten an die Macht kommen. Und wer stehe dem leidgeprüften Volk näher als Pauline?

Verführung ist das Ziel dieser Szene, die aus einer unpolitischen, allseits beliebten Frau eine kommunale Kandidatin der rechtspopulistischen Partei RNP machen soll, um dieser zu einem besseren Image zu verhelfen. Ein Vorhaben, das im Kino Vorgänger von „Hier ist John Doe“ (1941) bis „Der Papagei“ (1992, (fd 30 139)) hat, hier aber zur außergewöhnlich direkten Attacke wird. Belvaux macht bei seinem satirischen Drama keinen Hehl daraus, dass mit der RNP der Front National gemeint ist, die Ähnlichkeit seiner Film-Parteichefin Agnès Dorgelle mit Marine Le Pen ist unverkennbar. Wie ihr reales Vorbild gibt sich Dorgelle als um Frankreichs Wohl besorgte Powerfrau, die sich offiziell von den faschistischen Wurzeln ihrer Partei losgesagt hat, aber nicht vor Hassparolen zurückschreckt. Die Schauspielerin Catherine Jacob kommt dem Vorbild bis hin zur eisigen Mimik verblüffend nahe, doch ist Belvaux auf mehr als eine Bloßstellung durch Imitation aus. Mit seiner gutgläubigen, von Emilie Dequenne sehr einnehmend verkörperten Hauptfigur zeigt er, wie leicht sich Skepsis gegen Fremdenfeindlichkeit in Luft auflösen kann, wenn nur die richtigen Schlagworte fallen. Dass der von André Dussollier mit katzenhafter Eleganz gespielte Großbürger Berthier bei Pauline leichtes Spiel hat, wirkt ebenso glaubhaft wie ihre Reaktion auf die öffentliche Präsentation der Partei: Der begeisterte Jubel der vielen Anhänger macht ihr Eindruck, und die strammen Kampfansagen von Agnès Dorgelle scheinen ihr in der Tradition der abschließend gesungenen Marseillaise zu stehen. Mehr und mehr arrangiert sich Pauline mit ihrer neuen Aufgabe – und reagiert schwer beleidigt, wenn ihre noblen Absichten in Frage gestellt werden.

Neben diesen Spitzen gegen die Selbsttäuschung von Wut- und Protestwählern spießt Belvaux auch die modernen Strategien rechter Gruppierungen auf, die von offen rassistischen Äußerungen abraten und stattdessen milden Populismus und vor allem viel Lächeln empfehlen. Die Fraktion der rechten Gewaltszene erscheint in einem Nebenstrang um einen Jugendfreund von Pauline, von dessen nächtlichen Aktionen gegen Ausländer sie lange nichts ahnt. Weniger geglückt sind die Auseinandersetzungen der verführten Pauline mit Freundinnen oder ihrem Vater, einem früheren kommunistischen Gewerkschafter, bei denen das Drehbuch öfter in Phrasen abgleitet. Ohnehin leicht überladen mit Episoden um Ressentiments und wachsende Gewaltbereitschaft in der französischen Gesellschaft, verliert der Film zusehends an Präzision, bevor er etwas abrupt zum Schluss kommt. Das ist nach dem starken Beginn etwas ernüchternd, aber konsequent: Die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen soll keinesfalls mit dem Abspann enden.

Marius Nobach, FILMDIENST 2017/17