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Filmkritik

Di 3. Oktober 17.30 und 20 Uhr
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Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt

Dokumentarfilm

Regie: Patrick Allgaier, Gwendolin Weisser

Deutschland, 2017, 130 min.

Die Freiburger Globetrotter Patrick Allgaier und Gwendolin Weisser brechen im Frühjahr 2013 auf, um zu Fuß oder per Anhalter die Welt zu umrunden und sie mit allen Sinnen aufzunehmen. Ihre Erlebnisse und Erfahrungen füllen abwechslungsreich den dokumentarischen Film, der in der Überfülle an Impressionen mitunter zwar wie eine Diashow in Bewegtbildern anmutet, zugleich aber ein ansteckend positives, Mut machendes Bild der Erde und ihrer Bewohner entwirft. Zur Weltoffenheit und Neugier der Reisenden gehört auch, dass sie eigene Vorurteile revidieren und verdeutlichen, dass man selbst nach 100.000 Kilometern immer noch sehr wenig von der Welt gesehen hat. - Sehenswert

Langkritik:

So weit in den Osten fahren, bis sie irgendwann im Westen wieder rauskommen. Das nehmen sich Patrick Allgaier und Gwendolin Weisser vor, als sie im Frühjahr 2013 in Freiburg ihre Rucksäcke schnüren, um zu Fuß und per Anhalter die Welt zu bereisen. Als sie drei Jahre und 110 Tage später wieder nach Südbaden zurückkehren, sind sie zu dritt. Unterwegs, in Mexiko, kam ihr kleiner Sohn Bruno auf die Welt.

Im Dokumentarfilm „Weit“ erzählen sie ihre „Geschichte von einem Weg um die Welt“, wie es im Untertitel heißt. Der führt sie über den Balkan, einmal quer durch Asien, durch die Ukraine, Russland, Kasachstan, Kirgistan bis nach Georgien und über den Iran und Pakistan nach Indien, dann weiter nach China, in die Mongolei, nach Sibirien und schließlich nach Japan. Unterwegs übernachten sie meistens im Zelt, das sie einfach am Straßen- oder Wegesrand aufschlagen, mitten in der Steppe, in der Wüste, in den Bergen Nepals. Nur selten verbringen sie die Nacht auch mal in einem Lastwagen, einer Hütte oder einem Haus.

Eigentlich, entdeckt Gwen schon bald, sei das gar keine Reise. Es sei eher ein Lebensabschnitt, bei dem sie unterwegs seien. Von dieser Zeit, in der sie von einem Paar zur Familie werden, bleiben in 130 meist anregend-aufregenden Filmminuten vor allem Impressionen übrig. Schlaglichter auf überwältigende Landschaften: die kargen, staubigen, scheinbar endlosen Steppen Kasachstans, das grüne Georgien, das laute, rastlose Indien. Kurze Ausschnitte von zwischenmenschlichen, kulturellen Begegnungen. Ein Lastwagenfahrer, der in der Steppe einmal falsch abbiegt, Hunderte Kilometer in die verkehrte Richtung fährt und danach 40 Stunden am Steuer ausharrt, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen. Ein iranischer Student, der trotz der Zulassung zum Studium kein Visum für Deutschland erhält und sich stattdessen Deutschland in die eigenen vier Wände holt, indem er Gwen und Patrick bei sich wohnen lässt. Ein Derwisch, der sich wie ein Kreisel um sich selbst dreht. Die mongolische Familie, die nur anstandshalber von der vegetarischen Polenta kostet, die ihre deutschen Gäste für sie zubereitet haben, und sich dann doch lieber wieder auf Innereien stürzt. Ein mexikanischer Junge, der um ihren Stachel beraubte Skorpione über seinen Arm krabbeln lässt. Viele markante, junge, alte, fast immer lachende Gesichter.

Sie hätten „Fantasie durch Erfahrung getauscht“, beschreiben die Reisenden die Veränderungen, die sie während der Weltreise an sich selbst wahrgenommen haben. Ihre Vorstellung, wie es in anderen Ländern aussieht, wie die Menschen dort sind und leben, wurden durch konkrete Erlebnisse abgelöst. Schnell wird klar, dass ein Film das nicht nachzeichnen kann. Die Zeit verflüchtigt sich im Stakkato der Eindrücke. Zwar sind die Bilder chronologisch sortiert, doch monatelange Aufenthalte und kurze Stippvisiten nehmen im Grunde den gleichen Filmraum ein. Dadurch verflacht die narrative Struktur des in seiner Überfülle schwer zu bändigenden Materials mitunter zu einer Diashow in Bewegtbildern. Das Ergebnis ist ein derart abwechslungsreicher Film, dass er gerade dadurch gelegentlich auch etwas ermüdend wirkt.

Zugleich aber verbergen sich in „Weit“ unzählige Geschichten, Lebensläufe und Anekdoten, die zwar stets nur mit einem winzigen Zipfel aus der Oberfläche ragen, sich im Geiste jedoch wunderbar vervollständigen lassen. Für den Zuschauer liefern die persönlichen Erfahrungen der beiden Filmemacher Futter für die eigene Fantasie. Und formen sich, wie könnte das nach einer solchen Weltreise auch anders sein, zu eine Art Weltbild. Keinem ideologisch festgezurrten, sondern vielmehr zu einem offenen, positiven, Mut machenden Bild von der Welt.

Negative, enttäuschende Erlebnisse, die es in über drei Jahren „on the road“ ja auch gegeben haben muss, sparen die beiden Protagonisten aus. Stattdessen demonstrieren sie am Beispiel Pakistans, dass im Übergang von der Fantasie zur Erfahrung auch Vorurteile überwunden werden können. Ursprünglich nämlich wollten sie gar nicht nach Pakistan reisen. Zu gefährlich erschien ihnen das Land. Tatsächlich durchqueren sie die Region zunächst nur in Begleitung bewaffneter Einheiten. Dann aber lernen sie gastfreundliche Pakistani kennen, steigen in einen der kunterbunten Laster, die wie Zirkuswagen aussehen, und stoßen auf leere Souvenirläden, vergilbte Postkarten und andere Relikte aus der Zeit vor 9/11, in der man Pakistan einen Tourismusboom vorhersagte.

Am Ende, nachdem alles gut ging, kommen Gwen und Patrick zum Ergebnis, dass sie nicht einfach Glück gehabt hätten, wie viele meinen, sondern dass sie eher sagen würden: „Wir hatten einfach kein Pech.“

Das ist einer der Sätze, die hängenbleiben von einem Film, der seine Botschaft der Weltoffenheit schlicht dadurch vermittelt, dass er sich in dieser Welt bewegt: einer spannenden, anstrengenden, verrückten, schönen, atemberaubenden Welt.

Und noch etwas wird einem klar, wenn man einen Blick auf die Route wirft, die Patrick Allgaier und Gwendolin Weisser nach 96.707 Kilometern und Dutzenden Ländern über Mexiko und Guatemala schließlich auf einem fast leeren Kreuzfahrtschiff im Wartungsbetrieb über den Atlantik zurück nach Südbaden führt. Nämlich wie viel die beiden sympathischen Filmemacher auf ihrer Reise, bei der sie nie in ein Flugzeug gestiegen, sondern – auch sprichwörtlich – immer auf dem Boden geblieben sind, nicht gesehen haben. Diese Welt ist wirklich wahnsinnig weit.

Stefan Volk, FILMDIENST 2017/12