LINSE - Lichtspielkunst in Segeberg

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Filmkritik

Di 14. März 17.30 und 20 Uhr
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Die Ökonomie der Liebe

Drama

Regie: Joachim Lafosse

mit Bérénice Bejo (Marie), Cédric Kahn (Boris), Marthe Keller (Christine), Jade Soentjens (Jade), Margaux Soentjens (Margaux), Francesco Italiano (Freund beim Abendessen), Tibo Vandenborre (Freund beim Abendessen), Catherine Salée (Freundin beim Abendessen), Ariane Rousseau (Freundin beim Abendessen), Philippe Jeusette (Goran)

Belgien/Frankreich 2016, ab 12, 101 min.

Nach 15-jähriger Beziehung hat sich ein Paar auseinandergelebt, ist die Liebe erloschen. Doch um getrennte Wege gehen zu können, müssen sich beide einigen, wieviel jedem von der liebgewonnenen gemeinsamen Wohnung zusteht, was sich als höchst komplizierte Rechnung erweist. Ein kammerspielartiges, betont einfach inszeniertes, geduldig und genau beobachtendes Drama, das ebenso ernüchternd wie eindrücklich die Dilemmata einer Trennung durchspielt. Hinter den Diskussionen um Zahlen und Betreuungszeiten scheint dabei stets das hintergründige emotionale Gefüge durch, das die vorzüglich gespielten Hauptfiguren bewegt. - Sehenswert

Langkritik

Unterm Strich bleibt nur tiefe Abneigung: Nach 15 Jahren Beziehung ist die Liebe von Marie und Boris am Ende. Lange Zeit war es unmöglich, ohne einander zu leben, heute ist es Marie unbegreiflich, dass sie Boris je geliebt hat. Wie er spricht, wie er sich bewegt, wer er ist – alles an ihm nervt sie. Und doch schaffen es die beiden nicht, sich zu trennen. Zwischen ihnen und der Scheidung stehen nicht die zehnjährigen Zwillingstöchter, für deren Betreuung es bereits eine Vereinbarung gibt – es ist die gemeinsame Wohnung. Einst mit Bedacht ausgewählt, liebevoll renoviert und eingerichtet, erweist sie sich nun als ein unnachgiebiger Kitt. Marie muss Boris mit viel Geld abfinden, um die Wohnung zu behalten. Er fordert mehr, als sie zu geben bereit ist. Keiner gibt nach, keiner kann gehen. Das getrennte Paar bewohnt die Wohnung weiterhin gemeinsam.
Erneut wendet sich der belgische Regisseur Joachim Lafosse der Familie zu, dem zentralen Thema der meisten seiner Filme. Mit ähnlich quasi-dokumentarischem Blick wie zuvor etwa in „Unsere Kinder“ (2012, (fd 41 584)), in dem kulturelle Differenzen und finanzielle Abhängigkeit schleichend zur unfassbaren Tragödie führen, beobachtet Lafosse nun, wie eine Beziehung an unterschiedlichen Wahrnehmungen zerbricht. Auf der einen Seite steht Marie, Tochter wohlhabender Eltern, die durch Erbe und einen gut bezahlten Job stets fürs Einkommen der Familie zuständig war, auf der anderen Boris, der sich als Architekt mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt, aber in die Gestaltung der Wohnung sein ganzes Können hat einfließen lassen. Sie sei deshalb nun deutlich mehr wert, lautet sein Argument im Streit um die Vermögensteilung. Beide rechnen sich mehrmals ihre Aufstellungen vor, dies aus der Perspektive des verletzten Partners, dessen Verdienst vom anderen nicht anerkannt wird. Um Geld geht es nur vordergründig. Hinter den Zahlen, der „Ökonomie der Liebe“, schimmern andere, emotionale Gründe für das Scheitern durch.
So vergehen die Tage in der schönen, lichtdurchfluteten Wohnung, die Streitobjekt und zugleich „Hauptdarstellerin“ des Films ist. Während sich Bérénice Bejo und Cédric Kahn als angespanntes Scheidungspaar schauspielerisch gegenseitig die Show stehlen, erinnern die warmen Stoffe, das gemütliche Sofa, das Ehebett oder der einladende Esstisch daran, dass dem Streit gemeinsames Glück vorausging. Um zu verdeutlichen, dass sich die Reste dieses Glücks nicht einfach in zwei gleiche Teile auseinandernehmen lassen, genügt es Lafosse, dem Alltagsgeschehen zu folgen: Wie in einem Käfig drehen sich Marie und Boris im Kreis, belauern, reizen, zerfleischen sich. Sie kümmert sich um die Töchter, kocht und wäscht. Er taucht auf, will sich ebenfalls um die Töchter kümmern. Doch gemeinsam geht nichts. In diesem kammerspielartigen Szenario gibt es außer der tagtäglichen Routine nur wenige Anstöße oder Einflüsse, die die Handlungskurve ausschlagen lassen könnten. Lediglich die Töchter, Maries Mutter und einige Freunde betreten die Kampfzone und können doch nichts an der Situation ändern. Eine Parteinahme erweist sich als unmöglich. Die Mädchen brauchen und wollen Papa und Mama. Beide Eltern sind für ihre Kinder da. Die Übrigen schaffen es ebenfalls nicht, sich klar zu positionieren, selbst als Boris ein Abendessen unter Freunden sprengt. Sowohl Marie als auch Boris haben auf ihre Weise irgendwo Recht.
Das Besondere des Films liegt in der Einfachheit des Plots und der Inszenierung. Mittels geduldiger, fast wissenschaftlich genauer Beobachtung zeigt sich das Drama in banalen Details. Eine Unterfütterung durch Skandale, tragische Wendungen oder Klischees sind nicht notwendig für diese Art pointierten Realismus. Die Ökonomie der Mise-en-scène destilliert ganz ohne Zusätze ein bitteres Konzentrat aus dem Gesellschaftsphänomen „Scheidung“. Einfach zu schlucken ist der Film deshalb nicht: Zu sehr spiegeln die Redundanz der Ereignisse und Argumente gewöhnliche Trennungsprozesse aus dem echten Leben. Die Wohnung indes ist fast zu schön, um wahr zu sein. Als einziger Zauber, den der Film zulässt, ist sie Denkmal und Mahnung zugleich: Liebe ist möglich, aber ihr „Output“ nicht kalkulierbar.
Marguerite Seidel
(Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des film-dienst, 2016/22)