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Filmkritik

Di 7. März 17.30 und 20 Uhr
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Die Mitte der Welt

Coming-of-Age-Film Literaturverfilmung Tragikomödie

Regie: Jakob M. Erwa

mit Louis Hofmann (Phil), Sabine Timoteo (Glass), Jannik Schümann (Nicholas), Ada Philine Stappenbeck (Dianne), Inka Friedrich (Tereza), Nina Proll (Pascal), Svenja Jung (Kat), Sascha Alexander Gersak (Michael), Clemens Rehbein (Kyle), Thomas Goritzki (Lehrer Hänel)

Deutschland/Österreich 2016, ab 12, 115 min.

Ein 17-Jähriger sucht in einer wichtigen Lebensphase nach Orientierung und Identität, wobei er sich mit den düsteren Geheimnissen in seiner unkonventionellen Familie ebenso konfrontiert sieht wie mit persönlichen Gefühlswirren, als er sich in einen gleichaltrigen Mitschüler verliebt. Die temperamentvolle, bewegende Adaption des Romans von Andreas Steinhöfel fokussiert auf zentrale Aspekte der Vorlage und verzichtet damit auf viele Handlungsstränge und Figuren. Der Film nähert sich darüber aber höchst respektvoll und zärtlich seinem jungen Protagonisten an, womit er dem Kern des Romans nahe kommt, indem er an Toleranz und Aufrichtigkeit appelliert und die existenzielle Kraft von Gefühlen feiert. - Sehenswert

Langkritik

Eines ist auch nach diesem schönen, so bewegenden wie temperamentvollen Film gewiss: Andreas Steinhöfels Roman „Die Mitte der Welt“ bleibt weiterhin unverfilmbar. Das mag nach einem Widerspruch klingen, ist es aber nicht. Denn eigentlich ist der Film gar keine Romanverfilmung, zumindest nicht im konventionellen Sinne, vielmehr die sinnliche Verdichtung einiger zentraler Handlungs- und Themenmotive der literarischen Vorlage. Womit der Film ganz wunderbar neben dem Roman bestehen kann.
Was Andreas Steinhöfel, dem Autor u.a. der „Rico & Oskar“-Geschichten, mit seinem (bisherigen) literarischen Glanzstück gelang, würde man andernorts mit Romanciers wie John Irving vergleichen: „Die Mitte der Welt“ kreiert ein überbordendes „Himmelsgewölbe“, kunstvoll gewebt aus zahllosen Episoden, Anekdoten und wagemutig verdichteten Erzählsträngen, getragen von lakonischem Humor, entschieden auf Effekte setzend, mutig und ermutigend, zum Lachen tröstlich, zum Weinen traurig. Ein Buch nicht zuletzt darüber, wie sich Wirklichkeit in Fiktion wandelt und Fantasie Realitäten schafft; denn die Mitte der Welt, das ist in Steinhöfels Roman auch die Bibliothek im Haus „Visible“, jener Ort, „an dem Geschichten beginnen und enden“.
Nun war die Frage nach der Mitte der Welt bereits für Steinhöfel nur mehrdeutig zu beantworten, und der österreichische Regisseur Jakob M. Erwa folgt mit seinem Film einer dieser weiteren Lesarten, die freilich nicht minder spannend ist. Der 17-jährige Phil verortet diese Mitte der Welt als „magisches“ Zentrum seines Fühlens, Denkens und Handelns in seiner Familie, die eine sehr besondere ist: ein dysfunktionales Sammelsurium aus Verwandten und Freunden, schrägen Individualisten, gesellschaftlichen Außenseitern, Lebenskünstlern, die das Leben lieben und zugleich an ihm leiden. Es sind vor allem die Frauen, die dabei das „Lebenstempo“ vorgeben, während die Männer eher kommen und gehen, oder abwesend sind wie Phils Vater: ein blinder Fleck, „eine merkwürdige Leere“, wie Phil es empfindet. Seine Mutter Glass schweigt sich rigoros über ihn aus, seit sie mit Phil und seiner Zwillingsschwester Dianne die USA verließ, um am Rand eines kleinbürgerlichen deutschen Kaffs die heruntergekommene, verführerisch-verwunschene Märchenschloss-Villa „Visible“ zu beziehen. Hier wachsen Phil und Dianne auf, immer wieder führen Rückblenden in ihre gemeinsame Vergangenheit zurück, als ihnen Glass’ Erziehung alle möglichen Freiräume und Freiheiten ließ, was sich indes als große Bürde und als alles andere als leicht und konfliktfrei erweist.
Zu Beginn des Films kehrt Phil aus den Ferien im Sommercamp in den Schoß der Familie zurück. Am Ende wird er sie erneut verlassen, um (irgendwann) wiederkommen zu können. Die Zeit dazwischen wird für ihn zu einer entscheidenden Lebensphase voller Gefühle und Gefühlsverwirrungen. Es gilt, düstere Geheimnisse zu lösen, schmerzhafte Erkenntnisse zu verkraften – und zu verstehen, was es denn heißt, „ein bisschen schwuler als andere“ zu sein. Denn Phils Homosexualität ist neben Familie das zweite zentrale Thema des Films, wobei er sich ganz entscheidend von redlich bemühten „Coming out“-Geschichten abhebt: Phils Empfindungen sind in seiner „militant“ toleranten Familie wie auch bei seiner engsten Freundin Kat vorbehaltlos anerkannt, sodass er sich mit großem Vertrauen und aller Leidenschaft in seine Liebe zum neuen Mitschüler Nicholas fallen lassen und sie auskosten kann. Glückstrunken radelt Phil nach dem ersten Date durch den (sinnbildhaft durch einen Sturm „gepflügten“) Wald, sinnlich ohne falsche Scham fängt die Kamera die Liebe der beiden ein, scheut sich auch nicht vor dem vermeintlichen Kitsch „schwärmerischer“ Körperlichkeit und erfindet gar fantastische Spielereien, etwa wenn die unsichtbaren Buchstaben, die Phil auf Nicholas’ Rücken malt, zu leuchten beginnen. Angesichts solcher Intensität verkümmern die anderen Figuren dann doch allzu oft zu konturärmeren Nebenfiguren, gerät so mancher Blick auf die Außenwelt zur Wahrnehmung im Zeitraffermoment – aber was soll’s? Genau das ist doch letztlich Phils Sichtweise, bis er allmählich erkennt, dass er seine Mitte der Welt doch jenseits aller körperlichen Liebe zu suchen hat. Und genau hier ist der Film wieder ganz nah am Roman: in seiner Zärtlichkeit gegenüber den Personen und in der Einsicht, dass das Risiko von Gefühlen alternativlos im Leben ist.
Horst Peter Koll
(Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des film-dienst, 2016/23)